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Innere Werte.

Beispiel einer Restaurierung.
Der unglaublich traurige Zustand dieses Instruments aus dem hause Schürer (Baujahr um 1960) weckte mein Mitleid. Es hatte durch falsche Lagerung Feuchtigkeitschäden erhalten. Nicht nur, daß äußerlich das Furnier abblätterte – so ziemlich alles war in Mitleidenschaft gezogen. Die Stecherstäbe, die die Verbindung zwischen Taste und Ventil herstellen, waren gequollen, so daß eine gedrückte Taste gleich unten blieb. Das Betätigen der Tretschemel hatte hatte nur ein Knistern der Schöpfbälge und des Magazinbalgs zur Folge, wobei sich mit jedem Tritt kleine braune Häufchen unter dem Instrument sammelten: Brösel aus hart gewordenem Gummi von den Balgfalten aus Gummituch. Tonerzeugung: Fehlanzeige. Einige Töne sprachen ohnehin nicht an oder waren grausig verstimmt, die Oktavkoppel funktionierte nicht bei allen Tönen, Registerzüge klemmten, die Vox humana, ein sogenannter Drehflügeltremulant, der durch ein sich im Schallauslaß drehendes Flügelrad den Ton rhythmisch abschwächt, ließ sich nicht in Bewegung versetzen.
Aber das Instrument hat zusätzlich zum Normalharmonium einen durchgehenden 16', außerdem im Diskant eine Zungenreihe, aus der die Register Schalmei 8' und Oboe 8' abgeleitet werden und den legendären Piccolo 2', der nur selten gebaut wurde, weil seine Zungen so filigran sind (er repetiert in der obersten Oktave). Der Subbaß mit dem üblichen Umfang von einer Oktave mit Zungen in einem separaten Stimmstock war mit einer zusätzlichen Abschwächung versehen. Gute musikalische Voraussetzungen – so war mein Ehrgeiz für eine Generalrestaurierung geweckt.
Zunächst wurde das Instrument komplett zerlegt, was einer Jagd auf Wollmäuse gleichkam. Stück für Stück wurden die oberen Gehäuseteile abgebaut, die Registerzüge ausgehängt und die Frontblende demontiert. Dabei erfolgte gleich eine schrittweise Reinigung. Nach dem Abheben des Klaviaturrahmens waren gleich mehrere Probleme sichtbar: Durch verzogene Stecherstäbe und verschobene Koppelscheibchen griffen die Oktavkoppelärmchen nicht überall ein. Die Forteklappen, die über den rechten Kniehebel gesteuert werden, klemmten aufgrund verrosteter Scharniere oder schlossen nicht richtig wegen ausgehängter Federn. Die Garnierungen in den Tastenführungen waren teilweise aufgequollen oder verschlissen – entweder klemmten die Tasten oder hatten im Gegenteil zu viel Spiel. Das weitere Zerlegen wurde zu einem Suchspiel: Wo sind noch Schrauben versteckt, die die Windlade mit dem Gehäuseunterteil verbinden? Aber schließlich lag auch die Balganlage frei.
Mit Ihrer Reparatur begann dann die Instandsetzung. Zunächst wurde das alte Gummituch von den Balgplatten entfernt, was sich leichter anhört, als es war. Es war so fest mit dem Holz verklebt, daß das Ablösen eine unglaublich zeitaufwendige und anstrengende Arbeit war. In kleinsten Fetzen mußte das Tuch mit Messer und Spachtel abgelöst werden,. Selbst mit der Heißluftpistole ging es schwierig, und ein Entfernen mit einem Schleifgerät führt aufgrund der Wärmeentwicklung zu einem Verkleben der Gummireste unter unheimlichem Gestank. Nachdem das Holz wieder blank war, wurde es sorgfältig geschliffen; neues Gummituch wurde zugeschnitten, mit Kartonplatten versehen, die für das Zusammenklappen der Falten nach innen Sorge tragen, und, nachdem die Balgzwickel mit Leder garniert worden waren, aufgeleimt. Die Rückschlagventile der Schöpfbälge waren bis auf eines noch in Ordnung; es wurde komplett neu angefertigt.

Nun wurde die Balganlage wieder eingesetzt, die Umlenkrollen für die Tretschemelgurte gängig gemacht, die Gurte selbst erneuert. Die Neuanfertigung der Dichtungen zwischen Balganlage und Windlade war notwendig und wirkungsvoll: Der völlig entleerte Magazinbalg benötigt nun fast eine Minute, um sich von selbst wieder zu füllen, und ein gehaltener Ton klingt bis zu 20 Sekunden nach, wenn man mit dem Pumpen aufhört.

Die Spielventile in der Windlade wurden alle gereinigt und auf einwandfreien Belag überprüft; zum Glück waren keine Motten in den Filzen, und das Leder war noch weich und geschmeidig. Einige Führungsstifte mußten justiert werden, insbesondere im Diskant, wo für die in einem separaten Stimmstock befindlichen Zungen ein zweites Ventil vom Hauptventil aufgedrückt wird.

Nach dem Zusammenbau kamen alle Klappen an die Reihe; sowohl die Mutzenklappen (also die Registerventile) als auch die Forteklappen. Scharniere gängig machen und Federn einsetzen waren dabei die zu erledigenden Arbeiten. Dann ging es an die Klaviatur. Alle Oktavkoppelärmchen wurden gereinigt und wieder beweglich gemacht. Die Stecherstäbe bereiteten den größten Aufwand. Verzogene Hölzchen mußten durch Neuanfertigungen ersetzt und Koppelscheibchen wieder angeleimt werden.

Alle Stecher wurden mit feinem Schleifpapier bearbeitet und in ihren Führungen wieder leichtgängig gemacht. Für ein besseres Gleiten und zur Verringerung des Einflusses von Feuchtigkeit erhielten sie einen Anstrich mit flüssigem Graphit. Im anschließenden Arbeitsgang wurden Tastenfall, Tastenspiel und Tastenhöhe einheitlich reguliert. Beim Zusammenbau der Registermechanik mußten viele Lederteile ersetzt und Achsen neu ausgetucht, für die Funktion des linken Kniehebels (Registerschweller) die Reihenfolge des Ansprechens der einzelnen Stimmen feinfühlig reguliert werden. Das Ventil der Vox humana wurde erneuert, so daß nun auch der Tremulant-Effekt wieder funktioniert. Nachdem das Instrument nach etwa 150 Arbeitsstunden wieder zusammengebaut war, war ich gespannt darauf, wie es klingen würde. Der offene, lebendige und obertonreiche Klang des Schürer-Harmoniums und sein tragfähiger Ton dürften sich selbst in Verbindung mit Orchester gut bewähren. Zum ersten Mal wurde es 2010 für die Uraufführung der Lukas-Passion von Tadeusz Klaus eingesetzt; heute erfüllt es gute Dienste in einem norddeutschen Opernhaus.

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